20 Dezember 2008

Krisenbiographie

Ich wurde 1976 geboren. Ich war gerade drei Monate alt, da passierte in Seveso die Dioxin-Katastrophe. Sie wurde zum Symbol für das vorherrschende Lebensgefühl dieser Zeit: Angst. Man hatte hauptsächlich Angst vor zwei Dingen, nämlich vor Umweltzerstörung und vor Atomwaffen. In dieser Stimmung wuchs ich auf. Meine Eltern waren weder besonders umwelt- noch irgendwie friedensbewegt, trotzdem war klar, daß bald alles zu Ende sein würde. Je nachdem, ob man eher rechts oder eher links stand, waren es die Amerikaner oder die Russen, die uns demnächst die Lichter ausblasen würden, und falls das wider Erwarten doch nicht passieren sollte, waren Konservative und Progressive sich einig, daß der Mensch stirbt, wenn der Wald stirbt, und der Wald starb ja zweifellos.

So vergingen die Achtziger. Mit Challenger und Tschernobyl gab es im Westen und im Osten jeweils einen großen Knall, der uns eindringlich vor Augen führte, daß der Weltuntergang eigentlich schon so gut wie da war. Schuld war einerseits die Blindheit der Menschheit, die lieber ins All fliegt, als zuhause ihre Probleme zu lösen, andererseits die haarsträubende Schlamperei des Russen in seinem maroden Atomkraftwerk.

Dann ging ich eines Montagmorgens zur Schule und las an den Zeitungsläden die Bild-Schlagzeile: Guten Morgen, Deutschland! Es war ein schönes Wochenende. Die Mauer war weg, alle freuten sich, allerdings nicht sehr lang, denn schnell war klar, daß unser Staat drauf und dran war, eine bankrotte Bananenrepublik aufzukaufen, und daß das nicht gutgehen konnte, war genauso klar. Bevor man darüber so richtig depressiv werden konnte, kam der erste Irakkrieg, Saddam Hussein war nach allgemeiner Auffassung der zweite Hitler, in Washington regierte der erste George Bush, und wir standen an der Schwelle des dritten Weltkrieges. Wenn vielleicht doch nicht im Irak, dann würde er halt in Jugoslawien seinen Ausgang nehmen. Der Jugoslawienkrieg zog sich wie ein diffuses Grundrauschen durch die ganzen 90er Jahre. Man verstand nie genau, was da eigentlich schief ging, aber es ging katastrophal schief, zehn Jahre lang, direkt vor unserer Haustür. Völker, die jahrzehntelang friedlich nebeneinander gelebt hatten, gingen plötzlich aufeinander los. War das keine Warnung für uns, die wir in unseren neuerdings 16 Bundesländern so friedlich nebeneinander lebten? Na klar, es ging ja schon los, in Hoyerswerda und Solingen und Mölln und Rostock. Also gingen wir auf die Straße und formierten uns zu Lichterketten, falls wir uns die Lichter noch leisten konnten, denn 1993/94 ging ein trübes Schreckgespenst namens Rezession durch Deutschland. Mit der Wirtschaft ging es bergab. Daimler machte Kurzarbeit. Das war der Anfang vom Ende. Hätte man sich aber denken können nach den Lasten der Wiedervereinigung. Schon bald würden wir in Lumpen durch die Straßen ziehen, nach essbaren Abfällen suchen und Ratten jagen, um sie zu schlachten und zu braten.

Die Rezession verschwand irgendwie wieder aus den Nachrichten, danach muß es so eine Art Aufschwung gegeben haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß mir irgendjemand etwas davon gesagt hätte. In den Nachrichten kamen immer nur schlechte Nachrichten. Der Anarcho-Chaot von Frankfurt wurde Außenminister, das war für die letzten drei überlebenden Wertkonservativen der Moment der endgültigen Verbitterung, und dann war seine erste Amtshandlung der Kosovokrieg, woraufhin die altgedienten Alternativen sich ebenfalls verbitterten. Ein Ding namens Dotcom-Blase platzte, zum Glück hatte ich mein Geld da nicht angelegt, ich hatte gar kein Geld, weil ja ständig Krise war. Und als dann die Flugzeuge in die Hochhäuser flogen, brach das ganze 20. Jahrhundert mit Getöse in sich zusammen, Nordturm und Südturm und Westblock und Ostblock, alles kaputt. Und das war etwas Neues. Es war nicht einfach die übliche Dauerkrise ˗ diesmal war es wirklich der Anfang vom Ende. Die ganzen nächsten Jahre wurde nur noch gejammert. Die Leute hatten graue Gesichter, sprachen nur im Flüsterton von der Zukunft, gingen gebückt und kraftlos ihrem Tagwerk nach und zitterten vor Angst. Der Krieg in Afghanistan und im Irak war da auch nur ein Symptom. Es war schrecklich. Wir würden alle sterben.

Nebenbei geschah noch etwas anderes, Erstaunliches: Die Umweltzerstörung, Hauptkrise meiner Kindheit, feierte ein Comeback. Was mir und jedem aufgeklärten Greenpeace-Magazin-Leser schon immer total klar gewesen war ˗ das Abschmelzen der Polkappen, Treibhauseffekt, Ozonloch ˗ all das war plötzlich wieder da, mehr noch, es war plötzlich Mainstream, so wie eine coole Band aus der Jugend, die sich irgendwann aufgelöst hat und jetzt plötzlich wieder da ist und mit neuem Bassisten wieder auf Tour geht und auf einmal die ganz großen Massen begeistert. Die Erderwärmung machte ungefähr so eine Karriere wie die Ärzte.

Wenigstens die wirtschaftliche Düsternis lichtete sich allmählich. Zum ersten Mal in meinem Leben standen positive, freundliche Dinge in der Zeitung: Aufschwung. Wachstum. Aber mir war klar, daß das nicht lange halten würde. Die Krise würde wiederkommen.

Na klar. Sie ist wieder da. Und sie ist wie immer schlimmer als je zuvor. Diesmal wird die Welt zusammenbrechen. Die Anfänge werden wir noch aus den Nachrichten erfahren, dann werden die Bildschirme dunkel bleiben, bald darauf wird der Strom ausfallen, allgemeines Chaos wird ausbrechen. Wer eine Wohnung mit Ofenheizung hat, wird sich glücklich schätzen, denn uns steht ein langer, harter Winter bevor. Wir werden in Lumpensammlerkolonnen durch die Straßen ziehen, wie schon damals in der Rezession von 93/94. Am Himmel werden seltsame Zeichen erscheinen, ab und zu wird irgendwo eine unserer überzüchteten Maschinen mangels Wartung explodieren, zum Beispiel eins der vielen aufgelasssenen Atomkraftwerke. Wer sich nicht anpassen kann, wird zugrunde gehen, und unsere Kinder werden in einer Welt aufwachsen, in der unsere technische Zivilisation nur noch eine ferne Erinnerung ist. Sie werden Büffel jagen und neue Götter anbeten.

Es gibt eine sogenannte Weltuntergangsuhr, auf der Wissenschaftler darstellten, wie nah die Menschheit am Abgrund steht. Manchmal stand diese Uhr auf 11:53, aber dann bauten beispielsweise die Pakistanis ein neues Atomkraftwerk, woraufhin die Uhr auf 11:57 vorgestellt wurde, und wenn das pakistanische Atomkraftwerk eine Zeit lang nicht in die Luft gegangen war, wurde die Weltuntergangsuhr wieder zurückgestellt auf 11:55. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch war es also meistens fünf vor zwölf. Und trotzdem wurde es nie Mitternacht.
Klar, daß mir die Uhr irgendwann egal war.

Daß man gegenüber permanenter Panik schnell abstumpft, ist nachvollziehbar ˗ aber ist es auch richtig? Sind wir tatsächlich wie der Mann, der aus einem Hochhaus fällt und sich bei jedem Stockwerk sagt: Bis hierher ging ja alles gut? Ist unsere Zivilisation so aufgebläht, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie platzt? Oder ist das ganze Leben ein freier Fall, und der Aufprall erfolgt nicht kollektiv, sondern nur individuell, zum Zeitpunkt des jeweiligen Ablebens?

Seit ich mich erinnern kann, ist Krise. Sie war schon immer da. Sie wird uns nie verlassen.
Das Leben geht bekanntlich weiter, aber das bedeutet nur, daß auch die Krise weitergeht. Wir werden immer am Abgrund leben, wir werden nie hineinfallen, aber falls wir eines Tages doch hineinfallen, werden wir alle zugleich ausrufen, daß wir genau wußten, daß es bald so kommen würde.

10 Dezember 2008

Weihnachten can wait

Wer kennt nicht diese widerstreitenden Empfindungen: Einerseits stehen mitten im Hochsommer die Nikoläuse in den Läden, und man denkt sich, welch widerwärtige Kommerzialisierung, nieder mit dem Kapitalismus. Andererseits geht nach dem Sommer alles rasend schnell, wie auf einer Rutschbahn donnert das Jahr seinem Ende entgegen, schon kracht man in voller Fahrt ins Weihnachtsfest, total unvorbereitet, nackt und unangeschnallt, und es wirft einen komplett aus der Bahn. Da liegt man dann, so aus der Bahn geworfen, daß man Monate braucht, um wieder halbwegs auf Touren zu kommen. Die ersten drei Monate dümpelt das Jahr so vor sich hin, es ist saukalt, aber die Vorweihnachtsgemütlichkeit ist weg, die Hektik ist weg, man kann auch nicht mehr über die Hektik meckern, es ist bleierne Zeit, bis irgendwann im späten Mai die ersten Blumen ihre Köpfe aus der Erde recken, schlagartig der Sommer ausbricht und die Nikoläuse schon wieder in den Läden stehen und alles von vorn losgeht.

Daher schlage ich vor, daß das Weihnachtsfest um einen Monat nach hinten verschoben wird, auf Ende Januar. Utopischer Blödsinn, sagen Sie? Ganz und gar nicht, sage ich. Ein Staat, der seinen Bürgern willkürlich zweimal im Jahr die Uhr verstellt, der kann auch Weihnachten verschieben. Damit es nicht so auffällt, könnte man ja auch die Monate umbenennen. Dann gäbe es halt im Umstellungsjahr den Dezember zweimal hintereinander, das wäre eine einmalige Kuriosität, so wie damals, als im 16. Jahrhundert der gregorianische Kalender eingeführt wurde und zehn Tage einfach ausfielen, aber die Menschheit würde es verkraften. Es würde zu großer Entspannung führen, zu buddhistischer Gelassenheit im Vorweihnachtsstreß. Der Winter wäre voll von glühweingesättigter Dauerseligkeit anstelle der autoaggressiven nordischen Winterdepression. Man hätte mehr Chancen auf Schnee. Man könnte den Advent verlängern, auf 8 Sonntage, das würde auch den Einzelhandel freuen. Die Adventskranzbranche würde sich ebenfalls freuen, denn sie könnte wegen des größeren Platzbedarfs der acht Kerzen deutlich größere Adventskränze absetzen. Der Glühweinkonsum würde steigen. Die drohende Weltwirtschaftskrise wäre schon so gut wie besiegt, wenn man einfach Weihnachten verschieben würde. Alle, die dagegen sind, könnten noch viel länger dagegen sein, dann wären sie voller Energie, müßten weniger heizen und würden das Weltklima schonen.
Und nach Weihnachten wäre dann ziemlich bald Frühling. Vielleicht sollte man Weihnachten sogar um zwei Monate verschieben, aber das dann besser in zwei Schritten, im Abstand von einigen Jahren.

04 Dezember 2008

 
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