30 Dezember 2006

Jahrescharts

Ein Jahresrückblick ist eine schöne Sache. In der Rückschau verlieren selbst schreckliche Dinge ihren Schrecken. Es sei denn, der Jahresrückblick geschieht selber in einer schrecklichen Form, nämlich als Top-Ten-Liste. In der Musikszene wird das gerne gepflegt, da findet man im doppelseitenweise die persönlichen Jahrescharts sämtlicher Redaktionsmitglieder, und schrecklich ist daran vor allem die Eintönigkeit: Mal stehen die Arctic Monkeys auf 1 und TV On The Radio auf 3 und Phoenix auf 5, dann wieder Phoenix auf 3 und Arctic Monkeys auf 2 und TV On The Radio gar nicht, dafür aber Hot Chip auf 3 und Clap Your Hands Say Yeah und The Kooks und The Whitest Boy Alive typischerweise auf 4 bis 6 und dann nochmal Hot Chip und so weiter. Der Erkenntnisgewinn ist gering, der Neuigkeitswert ist Null, das Prinzip ist immer das gleiche: Die Nervensägen der Saison werden nochmal durchgereicht.

Nur für den Leser bleibt nicht viel hängen. Steht da auf Nummer 1 "Kante", dann denke ich: Jo, klar, war ja ne nette Platte -­ steht da aber irgendwas total obskures, dann laufe ich keineswegs los und höre dieses Album, denn drum herum stehen ja tendenziell noch 20 total obskure Nummer Einsen, die ich mir nicht alle auf einmal anhören kann.

Vielleicht liege ich da falsch, aber mir erscheint dieser Drang, Kulturgüter in eine Rangfolge zu quetschen, a bisserl deppert und der Sache nicht gerecht. Die einzig vernünftige Art, so was zu machen, ist dumm, brutal und ehrlich, das ist nämlich die Zählung der Verkaufszahlen. Und da sehen meine persönlichen Jahrescharts ziemlich gleichförmig aus: Jede meiner Lieblingsplatten habe ich exakt ein Mal gekauft. Was sollte mich dann dazu treiben, sie nochmal von 1 bis 10 zu numerieren? Ähnlich dämlich würde ich mir vorkommen, wenn ich eine Top Ten meiner Freunde erstellen würde: Anton hat ein paarmal zu oft nicht zurückgerufen und schafft nur die Fünf, Alfred hat mir in Aserbaidschan mit Aspirin ausgeholfen und kommt auf die Zwei, Arthurs neue Freundin ist anstrengend und zieht ihn auf die Acht runter.

Klingt bescheuert? Jawoll. Macht ja auch niemand. Meine Freunde sind mir jeder für sich lieb und teuer. Etwaige Unterschiede sind mit einer Liste sowieso nicht adäquat auszudrücken. Mit Musik ist es ganz genauso. Auch die sollte man nicht durchnumerieren, sondern wegen ihrer Individualität wertschätzen und bei Bedarf lobpreisen.

Und genau das will ich jetzt mal tun, indem ich nämlich drei Bands lobpreise, die in keiner Jahres-Top-Ten zu finden waren. Jede hat ein so eigenständiges Konzept, daß der Mainstream, der sich Indie nennt, nicht so recht was damit anfangen kann. Dabei machen alle drei durchaus mehrheitsfähige Musik. Sie sind nicht Teil der Killers-Kooks-Razorlight-Mando-Diao-Kaiser-Chiefs-Maximo-Park-Arctic-Monkeys-Junge-in-zu-engen-Hosen-heult-mit-übergeschnappter-Stimme-Lawine, sie sind auch nicht Teil der Retro-Anti-New-Verweigerungs-Renaissance-Tudor-Folk-Welle, sie sind überhaupt kein Teil von gar nix, sondern machen etwas, das sie sich komplett selber ausgedacht haben. Und zwar mit Hingabe und Begeisterung. So was ist eher uncool, fällt immer etwas aus der Zeit heraus, wird nie zum Titelseiten-Hype und ist gerade deswegen wie ein Juwel, das man lange suchen muß und sorgsam behütet, wenn man es mal gefunden hat.

Da wären, ohne Rangfolge, einfach so für sich:

THE DIVINE COMEDY - Victory for the Comic Muse

Kennt man schon? Um so besser. Neil Hannon, Gründer und eigentlich einziges Bandmitglied, macht seit Jahren unerhört schöne Lieder mit hintersinnigen Texten, mit eleganten Anleihen aus der Klassik, getragen von einer großen Zuneigung zu Menschen und einem tiefem Verständnis für unser Dasein zwischen Lachen und Weinen. Außerdem ist er einer der GANZ wenigen Leute, die sich wirklich auf eine Bühne stellen und mit Menschenmengen kommunizieren und musizieren können, ohne dabei großspurig oder geistesabwesend oder gequält zu wirken.

SECRET MACHINES - Ten Silver Drops

Inmitten einer Welt voller unreifer Jungs geben sie dem Rock zurück, was er mal war: Eine Naturgewalt, die Berge versetzt. Und zwar nicht mit Gewalt, sondern mit Macht. So ein Schlagzeug hat man lange nicht mehr gehört. Solch einen konsequenten Willen zur Größe und zum Geheimnis auch nicht. Würde ich eine Top-Ten-Liste von 2006 verpaßten Konzerten schreiben, wären sie die Nummer 1. Ansonsten empfehle ich dieses Video.

GUILLEMOTS - Through The Window Pane

Ging in Deutschland total unter, ist aber umwerfend. Gibt der Popmusik was zurück, was seit Jahrzehnten komplett ins Reich des Trash abgewandert war, nämlich die vielgescholtene gute Laune. Das Positive. Lebensfreude. Konnte man ja schon länger nicht besingen. Zulässige Haltungen waren "wir sind jung und wütend" oder "wir sind sensibel und nachdenklich" oder "wir sind topintellektuelle Spaß-Nerds" oder "wir sind postmodern, kaputt und krank" oder "ich bin ja so genial und versponnen und verrückt" oder dergleichen mehr. Bis ein klavierspielendes Genie namens Fyfe Dangerfield kam und himmelhochjauchzende Freudenlieder mit tollen Texten voll irrer Metaphern sang. Selten wurde ich beim ersten Hören eines Songs so hinweggefegt wie hier bei Track 8.

Das war 2006. Es gab noch allerhand mehr, man kann die obige Auswahl auch für bescheuert halten, ich halte sie für notwendig und setze mich im vollen Bewußtsein der eigenen Subjektivität und Fehlbarkeit, aber doch ziemlich entschieden dafür ein.

Ich wünsche mir und euch für das kommende Jahr Musik, die uns mitnimmt, auf daß nicht alles so egal sei.

Keine Kommentare:

 
Stoppt die Vorratsdatenspeicherung! Jetzt klicken &handeln! Willst du auch an der Aktion teilnehmen? Hier findest du alle relevanten Infos und Materialien: