09 Februar 2009

Bericht von einer Aufstellung

Wir befinden uns in einer Art Seminarraum. Freundlich-sachlich-aufgeräumte Atmosphäre. Eigentlich gar keine Atmosphäre. Parkettboden, helles Deckenlicht, in der Ecke ein sehr kleines Klavier. Auf einem Tisch gibt es Kekse und Kaffee. David ist schon da, außer ihm einige Leute, die ich kenne, und einige, die ich nicht kenne. Es sind insgesamt vielleicht 20 Leute.

Wir setzen uns auf einen Kreis aus vielen Stühlen und einem Sofa. Auf dem Sofa sitzen drei Leute: David, Nicolai und die Aufstellungsleiterin. Nicolai ist ein Regisseur, der mal mit meiner Schwester einen Film gedreht hat. Ich sehe ihn aber heute zum ersten Mal. Er bewegt sich anscheined in der Aufsteller-Szene, leitet Drehbuchaufstellungen, Familienaufstellungen und wahrscheinlich auch alle anderen Arten von Aufstellungen. Die Aufstellunsgleiterin selber ist schätzungsweise Ende 30, trägt schwarz, ist gebürtig aus Rumänien. Und David ist mein bester Freund. Auf seine Bitte bin ich heute hier - einerseits aus Freundschaft, andererseits aus Interesse, was das eigentlich sein soll, so eine Aufstellung.

David erzählt von seinem Problem: Er dreht im Moment einen Dokumentarfilm über eine sektenähnliche Meditationsbewegung, welche im Moment nicht gut auf ihn zu sprechen ist, weil einige interne Dokumente an die Öffentlichkeit gelangt sind, aus denen hervorgeht, daß David die Meditationsbewegung durchaus kritisch betrachten will. Er weiß gerade nicht genau, welchen Schritt er als nächstes unternehmen soll, und hofft darauf, daß die Aufstellung vielleicht Klärung bringen könnte.

Wir fangen an. David wählt mich als Stellvertreter seiner selbst. Außerdem werden Stellvertreter aufgestellt für die Meditationsbewegung, die Lüge, David’s Ziel sowie allerhand andere Abstrakta, die ich vergessen habe. Genauer gesagt: Ich habe sie nicht in den zwei Tagen vergessen, die seitdem vergangen sind ˗ ich habe sie auf der Stelle vergessen. So wie man, wenn einem zehn Leute vorgestellt werden, sich auch nur zwei oder drei Namen merken kann. Ich stehe also mit acht anderen Personen im Kreis, David legt mir die Hände auf die Schutern und dirigiert mich irgendwohin. Das gleiche macht er mit den anderen Personen. Am Ende stehen wir alle irgendwo im Kreis. Eine kniet, halb aufs Sofa gelehnt, am Boden. Vor mir steht die Meditationsbewegung – eine gedrungene Frau mittleren Alters mit rotgefärbten Haaren, zum Pferdeschwanz gebunden, einer breiten Stupsnase und auffällig rasierten und nachgezogenen Augenbrauen. Sie trägt ein formloses, blaues Strick-Kleidungsstück, eine Art Mittelding zwischen Pullover und Poncho. Dann ist da Jan, den ich vom Volleyballspielen flüchtig kenne. Jan ist ungefähr so alt wie ich, stets in schwarz gekleidet, arbeitet irgendwie in der Modebranche, ist ein sehr freundlicher, offener, sportlicher, auf Anhieb sympathischer Kerl. Er steht für die Lüge. Im Moment sitzt er allerdings auf dem Fußboden. Wen die anderen verkörpern – keine Ahnung.

Da stehe ich also. Alle gucken etwas komisch. Man steht nicht so oft inmitten eines Stuhlkreises als Teil einer Aufstellung. Ich weiß nicht genau, was von mir verlangt wird. Soll ich mir vorstellen, ich sei David? Das wäre noch eine eher leichte Übung. Ich kann mir mit etwas gutem Willen auch vorstellen, die Frau mit dem Poncho wäre eine Meditationsbewegung. Jan, der auf dem Fußboden sitzt und hintersinnig in sich hineinlächelt, als Lüge zu betrachten, ist schon schwieriger, geht aber auch. Das Problem ist eher, daß ich mir nicht gemerkt habe, wer von den anderen wofür steht. Ich könnt mir durchaus vorstellen, daß irgendwer für irgendwas steht, und entsprechende Reaktionen spielen, aber solange ich nicht weiß, wofür, stelle ich mir lieber gar nix vor und bleibe bei meinen momentanen Wahrnehmungen. Der ganz in Olivgrün gekleidete, ernst wirkende Mann mit blondem Retro-Herrenhaarschnitt, der als David´ Tonmeister vorgestellt wurde ˗ was war der nochmal? Und die etwas blasse Frau in Schwarz mit der spitzen Nase, wofür steht die? Richtig, die war das, worum es geht. Aber worum geht es denn eigentlich?

Die Aufstellerin kommt zu mir und fragt mich, was ich empfinde. Ich erwidere:
-Eigentlich nichts. Alle stehen gleich weit von mir entfernt, das ist, ähm, ganz nett. Die da hinten steht etwas näher als die anderen.
-Wer?
-Die genau hinter mir. (Das, könnte ich jetzt hinzufügen, ist aber keine Empfindung, sondern eher eine Beobachtung, die in mir keine besonderen Empfindungen hervorruft.)
-Fühlst du dich von ihr bedrängt?
-Nö.

Die Aufstellerin befragt auch die anderen zu ihren Empfindungen. Den einen ist ein bißchen warm, einigen nur im linken Arm, anderen gar nicht. Einige fühlen Angst, Anspannung oder sonstwas. Einige haben auch einen Bewegungsimpuls.

Dann wird Nicolai gebeten, die Temperatur im Raum zu spüren. Er steht vom Sofa auf, geht rasch einmal kreuz und quer durch den Kreis, bleibt bei jeder Person kurz stehen und sagt, welche Temperatur er fühlt: Kalt, weniger kalt, warm. Er bleibt dabei vollkommen ernst. Ich frage mich: Spürt der da wirklich was? Wau. Das würde ich auch gern können.

Dann gibt die Aufstellerin einen offenen Bewegungsimpuls. Bedeutet: Jeder kann sich bewegen, wohin er will, so lange, bis sie Stop sagt. Wir bewegen uns. Ich lockere mich ein bißchen, weil Stillstehen ja eigentlich völlig unnatürlich ist. Niemand steht freiwillig irgendwo herum. Entweder man setzt sich hin, oder man bewegt sich. Wenn man Menschen piesacken will, läßt man sie stehen. Also bewege ich mich. Und dabei bemerke ich: Die Frau mit dem roten Pferdeschwanz und dem blauen Pulloverponcho, die die Meditationsbewegung symbolisiert folgt mir. Egal, wohin ich gehe, sie bleibt immer einen Schritt hinter mir. Wenn ich stehenbleibe, bleib sie auch stehen, und zwar auf einem unangenehmen halben Meter Abstand. Weil ich natürlich schon ahne, daß wir da, wo wir stehenbleiben, die nächste Viertelstunde stehen werden, und ich keine Lust habe, die nächste Viertelstunde auf unmittelbarer Tuchfühlung mit der rothaarigen Meditationsbewegung zu verbringen, laufe ich davon. Vergeblich, sie folgt mir. Okay, denke ich mir, dann muß das wohl so sein, trotzdem mag ich nicht die ganze Zeit vor der stehen, eigentlich mag ich überhaupt nicht stehen, also setze ich mich hin. Und zwar in einen sehr bequemen Sessel, der da als Teil des Stuhlkreises steht. Und bleibe sitzen. Alle sind stehengeblieben, niemand bewegt sich mehr. Die Meditationsbewegung steht vor mir und guckt mit ausdrucksloser Aggression auf mich herunter. Ich bleibe sitzen.

Jetzt, denke ich mir, könnte unsere Aufstellerin doch genausogut mal „Stop“ sagen. Bewegt sich doch eh keiner mehr. Sie sagt aber nicht „Stop“. Wahrscheinlich hat sie es vergessen. Sie fragt mich wieder, wie ich mich fühle.
-Gut, erwidere ich, es tut gut, mal zu sitzen.
-Und was spürst du für ein Verhältnis zur Meditationsbewegung?
-Na ja, sie guckt mich so böse an. Ich weiß nicht genau, warum.
Die gleiche Frage geht an die Meditationsbewegung. Diese gibt zu Protokoll, sie sei sehr aggressiv. Sie hätte eine Stinkwut auf mich.
Oha, denke ich mir, dann habe ich das immerhin richtig wahrgenommen. Vielleicht bin ich doch nicht ganz emotionsblind. Aber jetzt merke ich etwas anderes. Wie ich da so sitze und die kleine, rothaarige Meditationsbewegung so finster auf mich herabstarrt, fühle ich mich tatsächlich unwohl. Ich fühle mich wie damals in der Schule, als man in der Bank saß und Lehrerinnen mit stark geschminkten Gesichtern auf einen herunterguckten und dabei permanent die Flucht- und auch die Angriffsdistanz unterschritten. Das behagt mir nicht. Ich fühle tatsächlich etwas, das unmittelbar mit meiner Position im Aufstellungssystem zu tun hat. Ich fühle den Impuls, aufzustehen. Also stehe ich auf. Das fühlt sich schon viel besser an. Die Meditationsbewegung ist eine halben Kopf kleiner als ich, ich kann jetzt auf sie runterschauen, das verleiht ihrer entschlossenen Aggression etwas Lustiges.

Die Aufstellerin fordert mich auf, der Meditationsbewegung in die Augen zu schauen. Ich soll sagen, was ich sehe. Ich erwidere, daß ich von den Augenbrauen abgelenkt bin, die sind so interessant rasiert und dann nachgemalt. Daraufhin befiehlt mir die Aufstellerin, zu sagen:
„Ich schaue nur auf die Oberfläche.“
Moment mal, denke ich, stimmt das überhaupt? Darf die mir einfach so sagen, was ich sagen soll? Andererseits, denke ich mir dann, mach ich das ja alles nicht für mich, sondern für David. Mir persönlich ist es eher egal, ich will kein Spielverderber sein, ich will eher Eindrücke sammeln und nicht groß auffallen, also mache ich es mal, wenn sie unbedingt will.
Ich sage:
-Ich schaue nur auf die Oberfläche.
Ich muß dabei unwillkürlich grinsen. Ich habe bei diesem Satz selber ein Gefühl, als würde ich kleinen Kindern eine Geschichte vorlesen, in der der böse Wolf sich als harmlose Oma verkleidet hat, oder vielleicht auch die böse Oma als harmloser Wolf.
Die Aufstellerin fordert mich erneut auf, der Meditationsbewegung in die Augen zu sehen. Ich soll sagen, welche Gefühle ich dort sehe. Ich schaue in zwei kleine, ausdruckslose, graue Augen und versuche, mich von diesen wirklich ziemlich krassen Augenbrauen nicht ablenken zu lassen, und sehe keinerlei Gefühle. Zumindest nicht in den Augen. Völliger Blödsinn, daß man in den Augen irgendwas erkennen könnte. Es geht immer ums ganze Gesicht. In-die Augen-Starren ist Aggression. Wenn man es eine Minute lang gemacht hat, kann man eigentlich gleich den Fauskeil auspacken und sich kloppen. Aber ich soll ihr in die Augen gucken. Na gut, denke ich mir, irgendwas kann man schon irgendwie erschließen, immerhin guckt sie ja auch ziemlich böse, also sage ich:
-Ich sehe sowas wie, na ja, Zorn. Vielleicht auch Wut. Auf alle Fälle Aggression. Sie ist böse auf mich. Ich weiß aber nicht so genau, warum. Wir kennen uns doch gar nicht. Oh, jetzt war ich kurzzeitig von den Ohrringen abgelenkt, die sind auch sehr interessant. Okay, jetzt sehe ich etwas nachlassenden Zorn. Ein bißchen Entspannung.
Die Aufstellerin sagt zu mir:
-Sag zu ihr: Ich bin wütend, zornig und aggressiv.
Ich denke wieder: Moment mal! Die ist doch diejenige, die hier böse guckt! Nicht ich! Ich bin überhaupt nicht aggressiv! Wieso soll ich so was sagen? Dann denke ich mir wieder, was soll´s, und sage den gewünschten Satz.

Als nächstes geht die Aufstellerin zu einer blonden, sportlichen Frau um die 40, die noch im Kreis sitzt und bisher nur zuschaut. Sie flüstert ihr etwas ins Ohr, holt sie in den Kreis und stellt sie mir direkt gegenüber. Sie soll sagen, was sie fühlt.
-Ich bin stinkwütend, sagt die blonde Frau. Ich bin unglaublich sauer. Ich würde ihm am liebsten links und rechts eine knallen.
Dann bin ich wieder dran. Was fühle ich? Was sehe ich in ihren Augen? Mein Gott, wie unnatürlich es ist, einem wildfremden Menschen auf halber Armlänge gegenüberzustehen und sich starr in die Augen zu starren! Mach das mal in der U-Bahn mit irgendjemand, dann gibt´s aber Ärger! Ich muß die ganze Zeit unterdrückt grinsen. Halb, um die Situation zu entspannen, und halb, weil alle meine Antennen Absurdität im roten Bereich signalisieren.
Aber ich soll ja sagen, was ich bem Blick in die Augen der sportlichen blonden Frau um die 40 empfinde. Ich sage:
-Äähm, erstmal nix. Wir haben uns noch nie gesehen. Sie sieht ja zunächst mal ganz nett aus. Wir sollten uns vielleicht mal kennenlernen? Nen Kaffee trinken? Dann müßten wir uns hier nicht so verkrampft anstarren.
Die Aufstellerin sagt:
-Sag zu ihr: Ich bin arrogant, oberflächlich und verschlossen.
Ich spüre erneut Widerwillen, wiederhole den bereits mehrfach gedachten Gedankengang und sage
-Ich bin arrogant, oberflächlich und verschlossen
und kann mir dabei ein Grinsen nicht verkneifen.

Und wieder kriegen wir einen freien Bewegungsimpuls. Mein Impuls führt natürlich weg von den beiden Frauen, die mich schlagen wollen. Ich laufe irgendwie durch den Raum und stelle mich irgendwo hin. Bin ich ich? Bin ich David? Wenn ich ich bin, dann ist die rothaarige Tante mit den rasierten Augenbrauen keine Meditationsbewegung, sondern nur die rothaarige Tante mit den rasierten Augenbrauen, dann kann ich ohne schlechtes Gewissen vor ihr davonlaufen. Wenn ich aber David bin, dann sollte ich mich eigentlich mit der rothaarigen Tante auseinandersetzen, sie vielleicht umarmen, ihr die Haare lösen, ihr auf die Schulter hauen, mich selber vor ihr nackt ausziehen und ihr sagen: Wenn du mich ansiehst, bin ich nackt, oder irgend so was, denn in dem Fall wäre sie ja die Meditationsbewegung, und die ist ja David´ Problem, bei dessen Lösung ich natürlich gern helfen möchte. Aber wenn ich David bin und die Tante eine Bewegung ist, wer ist dann der Typ mit dem Retro-Herrenhaarschnitt? Und wer die Kleine mit dem komischen Szene-Pony und der Brille? Wurde doch alles vorhin gesagt. Aber ich hab´s mir nicht gemerkt. Dabei würde ich doch eigentlich gern mitspielen und nicht der Spielverderber sein, der immer nur Lachreiz und gelegentlich Brechreiz empfindet, der für arrogant gehalten wird und dem man vorwirft, er wolle sich nicht einlassen, nur weil er sich nicht reinsteigern will. Ich würde mich ja sogar ein bißchen reinsteigern, wenn ich nur wüßte, wohin. Ich habe zwei Fixpunkte: Es gibt die Meditationsbewegung, und es gibt die Lüge. Genau, die Lüge. Jan sitzt wieder irgendwo und grinst still in sich hinein und kommt dabei auch noch so rüber, als wäre er ganz entspannt im Hier und Jetzt und würde sich total einbringen, der Hund, dabei lacht er sich innerlich garantiert halb tot. Wobei ich ihn nie so ganz einschätzen kann. Vielleicht ist er auch mit ganzem Herzen dabei. Oder gedanklich komplett woanders. Schwer zu sagen.

Nun stehe ich da wieder halbwegs allein im Kreis. Die sportliche Frau mit den blonden Locken, die vorhin neu dazukam, ist mir gefolgt. Neben ihr steht das schwarzgekleidete Mädel mit den längeren Haaren und der etwas spitzen Nase. Ich stehe da mit meinem Pete-Doherty-Fan-Hut, den ich heute aufhabe, weil ich mir seit deutlich zu langer Zeit die Haare nicht gewaschen habe, was wiederum an der erst halb vergangenen Erkältung liegt. Die Frisur kann noch so beschissen aussehen ˗ wenn man einen Hut draufsetzt, ist alles bestens. Bis zu dem Moment, als die sportliche blonde Frau mir den Hut vom Kopf nimmt und der langhaarigen Schwarzgekleideten aufsetzt.
Hm, denke ich mir, das war jetzt aber nicht so nett. Ich könnte ihn mir wiederholen, aber das gäbe dann so ein Gerangel, da würde der Hut drunter leiden.

Und wieder soll ich sagen, wie ich mich fühle.
-Na ja, sage ich, irgendwie halt. Ich steh da jetzt so. Das mit dem Hut fand ich nicht so nett. Ich könnte eigentlich auch woanders stehen. Ich könnte auch ein bißchen auf dem Klavier da spielen.
-Klar, erwidert die Aufstellungsleiterin, mach das.
Also setze ich mich ans Klavier und mache den Deckel auf. Auf den Tasten liegt ein langes Stück alter Samt, das nehme ich weg, dann spiele ich irgendwas. Das Instrument ist nicht so toll, aber wenn man improvisiert, kann man ja immer in irgendeine Richtung improvisieren, in der das jeweilige Klavier sich wohl fühlt. Also spiele ich so vor mich hin, ein paar Akkorde hier, ein paar Akkorde da, alles eher gedeckt und herbstlich, das geht so eine Weile, dann höre ich Bewegungen in meinem Rücken. Auf einmal sitzen da fünf oder sechs Leute hinter mir. Ach, denke ich mir, Publikum, wie nett, vielleicht sage ich es auch, doch dann passiert etwas unvorhergesehenes: Hände greifen nach meinen Händen, ziehen sie von den Tasten, klappen den Deckel herunter, jemand wickelt mir den Stoffstreifen, der auf den Tasten lag, ums Gesicht, dann senkt sich ein grobgestrickter Sack über meinen Kopf. Und da fällt mir auf: Ich kenne diesen Sack. Es ist der große, blaue Pulloverponcho, den die Meditationsbewegung trägt. Den habe ich jetzt auf den Kopf. Aufstellung hin oder her, das geht mir jetzt etwas zu weit. Ich streife alles ab, aber die Hände von hinten ziehen mir den Pullover-Poncho-Sack wieder über den Kopf. Ich streife ihn wieder ab, die Hände wollen ihn mir wieder überziehen, ich wehre mich, dann halte ich inne und frage die Aufstellungsleiterin:
-Wie weit darf Gewaltanwendung gehen?
-Es darf, erwidert sie, keine bleibenden Schäden geben.
Bleibende Schäden, denke ich mir, das kann ja alles mögliche sein, und frage nach:
-Das heißt, Knochenbrüche sind okay, weil die wieder verheilen?
Nicht, daß ich den Impuls hätte, hier irgendjemandem die Knochen zu brechen, es interessiert mich einfach so, aber vermutlich wird diese Frage jetzt falsch verstanden, und hinterher werden Leute erzählen, ich hätte ihnen beinahe den einen oder anderen Knochen gebrochen.
-Nein, sagt die Aufstellerin, jeder soll so rausgehen können, wie er reingekommen ist.
Das klingt doch mal vernünftig. Es ist der erste vernünftige Satz, der heute in diesem Raum gesagt wurde. Doch dann kommt sie wieder, die Frage: Was fühlst du?
-Ich fühle, was man halt so fühlt, wenn man einen Sack über den Kopf gezogen bekommt. Niemand läßt sich gern von hinten einen Sack über den Kopf ziehen, noch nicht mal einen blauen Pullover-Poncho.
-Hast du einen Bewegungsimpuls?
-Ja, ich würde gern aufstehen.

Also darf ich aufstehen. Die sportliche, blonde Frau, die erst später dazugestellt wurde, steht jetzt direkt vor mir. Sie guckt mich an. Und dann umarmt sie mich. Sehr fest. Sehr lang.
Was fühle ich dabei?
-Ganz okay. Ich weiß nicht genau, was das jetzt soll, und ich kriege ein bißchen wenig Luft.
Die Frau lockert ihren Griff ein wenig, ich kriege etwas mehr Luft, und die Aufstellerin sagt:
-Das ist deine Mutter.
-Nein, sage ich, meine Mutter wohnt in München. Beziehungsweise, wenn ich David bin, dann wohnt meine Mutter in Bad Homburg.
Das ist der Frau, die meine Mutter ist, aber egal. Sie umarmt mich weiter. Ich denke mir: Okay, meine Mutter, die darf mich ja auch mal umarmen, aber andererseits hab ich auch meine echte Mutter noch nie drei Minuten am Stück umarmt, zumindest nicht nach Vollendung des vierten Lebensjahres, irgendwann ist auch mal gut, also mache ich mich vorsichtig los.

Und dann sagt die Aufstellerin, daß wir an dieser Stelle aufhören sollten. Wir können das Problem nicht vollständig klären. Immer, wenn ein Problem sich nicht lösen läßt, gibt es ein Problem in der Familie. Deswegen hat sie die Mutter mit aufgestellt. Aber sie wollte nicht ungefragt in eine Familienaufstellung gehen. Deswegen ist jetzt Schluß. Wir können uns entrollen. Nicht so, wie man einen Teppich entrollt – „entrollen“ heißt hier, daß wir uns aus unserer Rolle lösen. Ich bin jetzt also wieder ich und nicht David. Fühlt sich nicht wesentlich anders an. Auch die stabile rothaarige Frau, die ihren blauen Pulloverponcho jetzt wieder anhat, macht auf mich keinen anderen Eindruck als zuvor, obwoh sie gerade eben noch eine Meditationsbewegung war und mich verprügeln wollte.

Pinkelpause. Zigarettenpause. Dann setzen wir uns nochmal in den Kreis, und jeder schildert seine Erfahrungen. Ich schildere meine permanente Irritation, Befremden, Unsicherheit, welche Reaktion eigentlich von mir erwartet wird. Soll ich irgendwas spielen? Nein, soll ich nicht, es ist kein Spiel, es ist ernst. Wenn ich aber nichts spiele, kann ich nur auf das reagieren, was real vor meiner Nase passiert. Und wenn vor meiner Nase eine rothaarige Frau mit rasierten Augenbrauen ist, dann kann ich zwar spielen, sie wäre eine Meditationsbewegung, aber wenn ich mir das Spielen verbiete, dann bleibt da einfach eine Frau, vor der ich nicht gern so nah stehe, daß ich ihren Atem spüre, was sich aber keineswegs auf diese Frau beschränkt, sondern auf fast alle Menschen zutrifft. Okay, die Aufstellerin faßt zusammen, du bist irritiert und befremdet, alles klar, der nächste bitte. Alle fühlen irgendwas. Irgendwann driftet das Gespräch ab, man redet weniger über die Aufstellung, sondern eher über das Problem, das der ganzen Sache zugrundelag: Was soll David mit seiner Sekte anfangen? Die schwarzgekleidete Frau mit der etwas spitzen Nase redet sehr lange, etwas diffus, immer hart am Kern vorbei, ich würde gern was dazu sagen, aber sie macht einfach keine Pause, sie redet immer weiter, sie redet, es ist alles etwas dumm, was sie sagt, aber ihr ist das natürlich egal, sie redet und redet, David bringt ab und zu ein Wort dazwischen, ich möchte sie anbrüllen, halt doch mal die Luft an, tue das aber nicht.

Nicolai unterbricht mit sanfter Hand und bittet zu Abschlußrunde. Wir entrollen uns. Nochmal? Wir haben uns doch schon entrollt. Egal, wir stellen uns in den Kreis, sprechen seine Worte nach und tun, was er tut.
-Mein Speicher ist gefüllt!
Alle murmeln: Mein Speicher ist gefüllt.
Nicolai stellt die Beine einen halben Meter auseinander und sagt:
-Ich öffne meinen Speicher.
Ich denke: Beine breit und Speicher öffnen? Meint der das ernst?
Ich murmle: Ich öffne meinen Speicher und stelle meine Füße auseinander.
-Ich gebe alles an die Erde ab, was mit dem Thema der letzten Aufstellung zu tun hat.
Alle wiederholen es.
-Ich bin jetzt wieder völlig frei vom Fremden, ganz ich, ganz hier, ganz jetzt.
Na klar.
-Ich schließe meinen Speicher. Beine zusammen.
Ich schließe meinen Speicher. Als nächstes sagt Nicolai:
-Ich betätige die Spülung.
Nein, das sagt er natürlich nicht, er sagt:
-Ich bin – jetzt sagt jeder seinen Namen.
Ich bin Tyler Durden. Ich bin dein Vater, Luke. I´m not there.
Und dann streichen, streifen, schütteln alle die Aufstellung aus ihren Knochen, werfen alles, was sie belastet, weg, und dann gehen alle noch einen trinken und rauchen ziemlich viel, und man kann sich mit den meisten, sogar mit denen, die vorhin noch unglaublich idiotische Dinge mit gravitätischem Ernst vollzogen haben, ganz vernünftig unterhalten.
Hätte man vielleicht von vornherein machen sollen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Köstlich!

Anonym hat gesagt…

meine ex-Mitbewohnerin schwört auf Familienaufstellung. Sie macht das ein-, zweimal im Jahr wenn sie kann.

Hm, also der Aufstellung nach zu urteilen, ist die Sekte sauer auf "Felix", und "Felix" weiß nicht so recht was er anfangen soll. Auch so, ja genau deswegen die Aufstellung. Vielleicht könnte die Aufstellung dann eine aufgestellte Aufstellung machen, oder so.

xxxc

 
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