15 September 2008

One Shot

Erinnert sich noch jemand an die 90er Jahre, als alle Welt vom Musikvideo redete? Mit seiner grellen, schnellen, wilden Visualität würde das Musikvideo unsere Sehgewohnheiten komplett umkrempeln, hieß es damals, wir würden bald alle nur noch in zackig-abgehackten Ein-Sekunden-Schnitten denken und reden und überhaupt, auch das Kino wäre im 21. Jahrhundert, also bald, generell ziemlich clipmäßig drauf, und der durchschnittliche Zuschauer würde bei allem, was länger ist als 3 Sekunden, eh bald einschlafen.
Die 90er sind Geschichte, das namenlose Jahrzehnt, das danach kam, ist auch schon wieder fast vorbei, wir sind mittendrin im 21. Jahrhundert, unsere Sehgewohnheiten sind nicht grundlegend anders als früher, die Einstellungen im Kino sind tendenziell eher länger geworden, die Filme selber auch, und was ist aus dem Musikvideo geworden? Nix. Kein Schwein redet mehr davon. Es führt eine grobpixelige Schattenexistenz auf Youtube - und gedeiht dort prächtig. In letzter Zeit findet man immer mehr wundervolle Videos mit tollen Ideen - und unglaublich viele davon sind in einer einzigen Einstellung gedreht. Komplett ohne Schnitt. Einfach so. Überhaupt nicht clipmäßig. Im folgenden einige schöne Beispiele.

"Bat For Lashes" heißt die Band, deren Sängerin hier durch einen nächtlichen Wald radelt, begleitet von unruhigen Tieren. Danke an Peter für den Hinweis.



Goldfrapp sind ja längst Mainstream. Ich befinde mich mit der stets sehr auf Abgrenzung bedachten Indie-Welt in entschlossener Uneinigkeit, wenn ich sie trotzdem mag. Will Gregory hat ein musikalisches Können (und Sounds in der Schublade) wie zuletzt die französischen Impressionisten. Debussy und Satie hätten ihre helle Freude, bestimmt auch in diesem Video und dem Kerl, der da in einer unerhört sportlichen Leistung drei Minuten lang durch die Gegend hopst.



Leslie Feist und ihren Über-Knaller-Hit "1234" kennt man. Das dazugehörige Video bleibt eine Meisterleistung des ferngesteuerten Kamerakrans, auch wenn die ekstatisch tanzende Hippiekommune in Secondhandklamotten wirklich nicht jedermanns Sache ist.



Vampire Weekend waren einer der Hypes diesen Jahres, auf die ich nicht so recht einsteigen konnte, die ich aber auch nicht wirklich schlimm fand, eher im Mittelfeld zwischen ganz nett und eigentlich egal, aber das Video ist lustig, und der Song irgendwie dann auch.



"Clocks" sind eine Band, von der ich nichts weiß, außer daß sie "Clocks" heißen und eine Single namens "Old Valve Radio" haben, ein entspanntes Stück swinging Pop-Rock, und dazu ein Video, das sehr viele verdeckte Schnitte enthält, aber formal trotzdem der One-Shot-Ästhetik folgt.



Mindestens genausoviele verdeckte Schnitte gibt´s hier bei Jarvis Cocker. Das Video ist mittlerweile zwei Jahre alt, mittlerweile ziemlich bekannt, aber immer noch der Hammer.



Und was natürlich auch nicht fehlen darf: OK Go auf den Laufbändern. Haben 40 Millionen Leute gesehen, kann man sich eignetlich auch sparen, hier zur Abwechslung mal mit Legofiguren.



Und dann wäre da noch Iron And Wine, Projektname eines Singer-Songwriters namens Sam Beam, der besinnliche Folksongs macht und mich nie sonderlich interessiert hat, bis ich dieses sehr reduzierte Video sah, das zu einem durchaus schönen Lied gehört.



Es gibt noch reichlich andere ungeschnittene Videos da draußen (zum Beispiel welche von CSS und Low, die ich aber filmisch eher unspannend fand). Wer noch ein schönes One-Shot-Video hat: Her damit.

Und zuletzt die Frage: Warum machen die das alle? Es hat, wie alles, vermute ich mal, mehrere Gründe. Die einen sind pragmatisch-finanziell. Eine ungeschnittene Einstellung ist die potentiell billigste Art sein, einen Film zu machen. Kamera aufstellen, drehen, fertig. So war´s wohl bei OK Go. Die Videos von Feist, Goldfrapp oder Jarvis Cocker hingegen dürften alles andere als billig gewesen sein. Insgesamt vermute ich eher, daß die Beschleunigung der 90er sich irgendwann totgelaufen hat. Man ist heute an einer unmanipulierten Wahrheit interessiert. Jeder Schnitt ist eine Manipulation. Jede Zusammenfügung zweier Bilder bietet Raum für Polemik und Pathos. Ein ungeschnittener Film läßt das Gefüge der Zeit intakt und macht dadurch ihr Verstreichen spürbar. Soweit die etwas verblasene Theorie. Kann aber auch alles ganz anders sein. Sicher weiß ich nur, daß die Sorte von Videos aus irgendeinem Grund enormen Spaß macht. Man verliert längst nicht so schnell das Interesse wie bei konventionellen Videos, die ich mir fast nie bis zum Ende ansehe. Diese schon, weil man immer gespannt ist, was als nächstes kommt.

EDIT:
Paßt zwar nicht so ganz in mein Thema "One Shot als nagelneuer Trend", darf aber auch nicht fehlen:
Spice Girls "Wannabe". Danke an eine Kommentatorin namens Tanja.



4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

hat jetzt rein gar nichts mit dem thema zu tun aber "Schlafen kann ich, wenn ich Fassbinder bin" ist ein sehr schönes motto.

Anonym hat gesagt…

wenn Du keine Hippiekommunen in 2ndklamotten mehr sehen magst, dann probier diese Version: http://uk.youtube.com/watch?v=fZ9WiuJPnNA&feature=related

xxxc

Anonym hat gesagt…

Zack!
DAS one-shot-pop-clip-wonder #1:
"Wannabe"
http://de.youtube.com/watch?v=M3wgaWAHo2Q

jajajaja, es gibt einen versteckten Schnitt, aber den finde ich jetzt selbst nicht mehr : )

Anonym hat gesagt…

Danke für die Zusammenstellung dieser netten Musikvideos.
Was die Beschleunigung angeht, ist es wahrscheinlich wie immer
in der Kunstwelt. Eine kleine Avantgarde (in diesem Fall das Musik-
video) stellt etwas mehr oder weniger revolutionär neues auf die
Beine, die Fachwelt ist geteilt in zwei Lager: diejenigen die auf
jeden neuen Hype aufspringen und in diejenigen, die bei jeder
extravaganteren Neuerung den Untergang des Abendlandes
heraufbeschwören. Nach ein paar Jahren glätten sich die Wogen,
das Neue verliert seinen revolutionären Reiz und wird wie
alle Neuerungen davor in den großen bunten Werkzeugkasten
der künstlerischen Ausdrucksweisen eingereiht.
Ich für meinen Teil bin froh, in einer Zeit zu leben, die die
friedliche Koexistenz solch unterschiedlicher Filme wie "Das
jüngste Gewitter" und "Bourne Ultimatum" zulässt.
Vielleicht noch eine Bemerkung, weil mich das Thema gerade
beschäftigt. Ich denke in unserem täglichen Leben hat durchaus
eine Beschleunigung stattgefunden. Die Zahl der Kanäle, auf
denen wir mit Informationen zugebombt werden ist ja geradezu
explosiert. So könnte man die von dir zusammengestellten Musik-
videos aber auch z.B. die Filme der Berliner Schule durchaus als
eine Art Renaissance der Schlichtheit o.ä. lesen. (Blabla)
Danke jedenfalls, für diese kurze kunsttheoretische Intermezzo
in meinem Arbeitstag.
Muss jetzt wieder Geräusche schneiden, für einen österreichischen
Softactionfilm mit emotional verträumten Überbau. Schnittfreuenz:
30 Schnitte/Minute


Benjamin

 
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